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Auch während der Pandemie muss ein Betroffener persönlich angehört werden

Bevor jemand unter Betreuung gestellt wird oder eine sonstige maßgebliche Entscheidung über seine Betreuung gerichtlich erfolgt, muss eine persönliche Anhörung des Betroffenen stattfinden. Das Gericht muss einen unmittelbaren persönlichen Eindruck gewinnen können. Eine lediglich fernmündlich geführte Unterhaltung mit dem Betroffenen genügt daher den Anforderungen an eine „persönliche Anhörung“ nicht;
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 4.11.2020, Az. XII ZB 220/20.

Das ist passiert:

Ein Ehemann regte für seine 1965 geborene Ehefrau die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung an. Das Amtsgericht hat eine Verfahrenspflegerin für die Betroffene bestellt, ein schriftliches Sachverständigengutachten eingeholt und die Betroffene in deren Wohnung persönlich angehört. Der Ehemann wurde daraufhin zum Betreuer für die Aufgabenbereiche „Behörden- und Sozialversicherungsangelegenheiten, Postangelegenheiten, Vermögensangelegenheiten“ bestellt. Für die Aufgabenbereiche „Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge“ wurde eine Berufsbetreuerin bestellt.

Gegen diese Entscheidung wendete sich die betroffene Ehefrau mit einer Beschwerde. Das Landgericht hat das Verfahren auf die Einzelrichterin übertragen, die nach einem Telefongespräch mit der Betroffenen im Januar 2020 eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen zu der Frage eingeholt hat, ob „die Betreuung für die Aufgabenkreise Gesundheitssorge/Auf-enthaltsbestimmung aktuell erforderlich“ erscheint. Nach Übersendung des Ergänzungsgutachtens an die Verfahrensbeteiligten fand im März 2020 ein weiteres, etwa 20-minütiges Telefongespräch zwischen der Einzelrichterin und der Betroffenen statt. Das Landgericht hat die Beschwerde dann ohne weitere persönliche Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen.

Die Betroffene wehrte sich weiterhin gegen die Einrichtung der Betreuung für die Aufgabenkreise „Aufenthaltsbestimmung/Gesundheitssorge“ und legte Rechtsbeschwerde ein.

Darum geht es:

Es geht darum, ob das Landgericht sich einen genügenden persönlichen Eindruck von der Betroffenen gemacht hat, um eine Betreuung in diesem Umfang anordnen zu können.

Die Entscheidung:

Der Bundesgerichtshof gab der Betroffenen Recht und hob die angegriffene Entscheidung auf. Die Sache wurde an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Landgericht stützt seine Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass die Betroffene unter einer bipolaren Störung leidet und deshalb ihre Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgehoben sei. Das haben ärztliche Gutachten ergeben. Schließlich sei die Betroffene im Beschwerdeverfahren zweimal ausführlich telefonisch angehört und ihre Betreuungssituation erörtert worden, insbesondere in Bezug auf den Wunsch der Betroffenen nach Einholung des Ergänzungsgutachtens.

Nach § 278 Abs. 1 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflichten aus § 278 Abs. 1 FamFG bestehen nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so ist hingegen eine erneute Anhörung des Betroffenen geboten.

So liegt der Fall auch hier. Zwar ist das Ergänzungsgutachten ausdrücklich nur zur Frage der Erforderlichkeit der Betreuung in den Aufgabenbereichen Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung eingeholt worden. Der Sachverständige hat im Rahmen seines Ergänzungsgutachtens allerdings nochmals zur Grunderkrankung der Betroffenen und damit zu den medizinischen Voraussetzungen der Betreuung Stellung genommen, und seine diesbezüglichen Ausführungen werden in der Beschwerdeentscheidung ersichtlich auch verwertet.

Eine nur telefonisch geführte Unterhaltung mit dem Betroffenen genügt daher den Anforderungen des § 278 Abs. 1 FamFG nach allgemeiner und zutreffender Ansicht nicht.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:

Gerichte dürfen auch in Pandemiezeiten nicht auf eine persönliche Anhörung verzichten. Zwar müssen der Schutz und die Sicherheit des Gerichts vor Ort gewährleistet sein. Dies ist aber der Fall, wenn die allgemein empfohlenen Hygienemaßnahmen befolgt werden. Das verbleibende Restrisiko für Richter und Richterinnen bewertet das Gericht geringer als die Notwendigkeit, sich einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen.


Quelle: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 4.11.2020, Az. XII ZB 220/20