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BGH klärt die Voraussetzungen für den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen

Der Bundesgerichtshof hat sich mit der Formulierung von Patientenverfügungen weiter auseinandergesetzt und die sich aus der Patientenverfügung ergebende Bindungswirkung stärker präzisiert. Nicht nur der Wortlaut der Patientenverfügung, sondern auch frühere Äußerungen des Patienten müssen herangezogen werden, um dessen letzten Willen bezüglich lebenserhaltender Maßnahmen zu erforschen und ihm gegebenenfalls nachzukommen. (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.11.2018, Az. XII ZB 107/18; siehe auch Bundesgerichtshof, Beschluss vom 8.2.2017, Az. XII ZB 604/15)

Das ist passiert:

Im Mai 2008 erlitt eine damals 68-jährige Frau einen Schlaganfall. Sie wird seitdem über eine Magensonde künstlich ernährt. Im Juni 2008 hatte die Betroffene einmalig nach dem Schlaganfall die Möglichkeit zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit sagte sie ihrer Therapeutin: „Ich möchte sterben.“ Seitdem liegt sie im Wachkoma.


Bereits im Jahr 1998 hatte die Betroffene ein mit „Patientenverfügung“ betiteltes Schriftstück unterschrieben. In diesem war niedergelegt worden, dass unter anderem dann, wenn keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht oder aufgrund von Krankheit oder Unfall ein schwerer Dauerschaden des Gehirns zurückbleiben sollte, „lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben“ sollen. Ferner hat sie dort auch die Formulierung „aktive Sterbehilfe lehne ich ab“ verwendet.


Zu nicht genauer festgestellten Zeitpunkten von 1998 an bis hin zu ihrem Schlaganfall hatte die Betroffene mehrfach gegenüber verschiedenen Familienangehörigen und Bekannten angesichts zweier Wachkoma-Patienten aus ihrem persönlichen Umfeld geäußert, sie wolle „nicht künstlich ernährt“ werden, sie wolle „nicht so am Leben erhalten“ werden, sie wolle „nicht so daliegen“, lieber sterbe sie. Sie habe durch eine Patientenverfügung vorgesorgt, damit ihr das nicht passieren könne.
Ehemann und Sohn der Frau sind zu gesetzlichen Betreuern bestellt. 2014 stellte der Sohn bei Gericht den Antrag, die künstliche Ernährung einzustellen und die Mutter sterben zu lassen. Dies würde dem in der Patientenverfügung niedergelegten Willen der Mutter entsprechen. Sein Vater war jedoch der gegenteiligen Auffassung. Das Landgericht lehnte den Antrag ebenfalls ab, weil die Patientenverfügung nicht eindeutig genug sei. Seitdem wurde viel über die Interpretation dieser Patientenverfügung gestritten.


Der Bundesgerichtshof hob die erste Entscheidung des Landgerichts auf (Beschluss vom 8.2.2017, Az. XII ZB 604/15) und wies das Landgericht an, die Sache erneut zu entscheiden. Das Landgericht hat ein Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt, ob der konkrete Zustand der Betroffenen im Wachkoma ihr Bewusstsein entfallen lässt und ob in diesem Fall eine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht. Nachdem der Sachverständige sein Gutachten auch mündlich erläutert hatte, hat das Landgericht die Beschwerde des Sohnes nun mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass eine gerichtliche Genehmigung nicht erforderlich sei. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Ehemanns der Betroffenen hatte keinen Erfolg.

Darum geht es:

Es geht darum zu klären, ob der in der Patientenverfügung zum Ausdruck kommende Wille so klar und eindeutig formuliert ist, dass er eine sogenannte Bindungswirkung entfaltet. Ist diese gegeben, ist eine Einwilligung des Betreuers, die erst durch das Gericht genehmigt werden muss, nicht nötig, weil der Betroffene selbst über die Maßnahmen entschieden hat.

Die Entscheidung:

Der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme bedarf dann nicht der betreuungsgerichtlichen Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), wenn der Betroffene einen entsprechenden eigenen Willen bereits in einer wirksamen Patientenverfügung (§ 1901a Abs. 1 BGB) niedergelegt hat und diese auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. In diesem Fall hat die Betroffene diese Entscheidung selbst in einer alle Beteiligten bindenden Weise getroffen, sodass eine Einwilligung des Betreuers, die dem betreuungsgerichtlichen Genehmigungserfordernis unterfällt, für die Maßnahme nicht erforderlich ist.


Wird das Gericht dennoch angerufen, weil eine der beteiligten Personen Zweifel an der Bindungswirkung einer Patientenverfügung hat und kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass eine wirksame Patientenverfügung vorliegt, die auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, hat es auszusprechen, dass eine gerichtliche Genehmigung nicht erforderlich ist (sogenanntes Negativattest).


Folgende Anforderungen stellt der Bundesgerichtshof an eine Patientenverfügung:

 

  • Umschreibende Festlegungen reichen aus. Vorausgesetzt werden kann nur, dass der Betroffene umschreibend festlegt, was er in einer bestimmten Lebens- und Behandlungssituation will und was nicht. Maßgeblich ist nicht, dass der Betroffene seine eigene Biografie als Patient vorausahnt und die künftigen Fortschritte in der Medizin vorwegnehmend berücksichtigt.
  • Allgemeine Anweisungen genügen nicht. Als „allgemein“ sieht der Bundesgerichtshof Anweisungen wie die Aufforderungen „ein würdevolles Sterben zu ermöglichen oder zuzulassen, wenn ein Therapieerfolg nicht mehr zu erwarten ist.“


Man dürfe aber die Anforderungen auch nicht überspannen, so der Bundesgerichtshof. Ein Patient könne den Verlauf seiner Krankheit nicht vorausahnen. Im diesem Fall hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 8.2.2017 (Az. XII ZB 604/15) ausgeführt, dass die Betroffene mit der Anknüpfung ihrer Regelungen zu den ärztlichen Maßnahmen, in die sie einwilligt oder nicht einwilligt, an die medizinisch eindeutige Feststellung, dass bei ihr keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht, hinreichend konkret eine Lebens- und Behandlungssituation beschrieben hat, in der die Patientenverfügung Geltung beanspruchen soll.


Nach dem Inhalt des eingeholten neurologischen Sachverständigengutachtens besteht bei der Betroffenen eindeutig ein Zustand schwerster Gehirnschädigung, bei der die Funktionen des Großhirns – zumindest soweit es dessen Fähigkeit zu bewusster Wahrnehmung, Verarbeitung und Beantwortung von Reizen betrifft – komplett außer Kraft gesetzt sind. Dieser Zustand ist nach Meinung des Sachverständigen irreversibel.


Aufgrund dieser Feststellungen ist die Auffassung des Beschwerdegerichts, dass bei der Betroffenen keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht und damit die Lebens- und Behandlungssituation vorliegt, an die die Betroffene in ihrer Patientenverfügung den Wunsch geknüpft hat, dass lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben sollen. Die Patientenverfügung mitsamt den darin enthaltenen Formulierungen ist damit nicht zu beanstanden.
Außerdem hat das Landgericht umfassend und sorgfältig geprüft, ob die Patientenverfügung auch eine Einwilligung der Betroffenen in den Abbruch bereits eingeleiteter lebenserhaltender Maßnahmen beinhaltet.


Hierbei hat es auf der Grundlage der schriftlichen Patientenverfügung zu Recht den Aussagen der vernommenen Zeugen besondere Bedeutung beigemessen. Die Aussagen der Zeugen dürfen auf jeden Fall berücksichtigt werden, auch wenn eine Patientenverfügung vorliegt. Denn hier würden die Zeugenaussagen das bestätigen, was in der Urkunde schon angedeutet wurde.
Zudem hat sich das Landgericht im Rahmen seiner Auslegungserwägungen eingehend mit der Frage befasst, ob die in der Patientenverfügung enthaltene Formulierung „aktive Sterbehilfe lehne ich ab“, dahingehend zu verstehen sein könnte, dass die Betroffene den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ablehnt und diese Frage verneint.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:

Mit dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird es etwas einfacher, Patientenverfügungen zu befolgen, auch wenn sie nicht perfekt formuliert wurden. Der Betreuer hat die Pflicht, den  mutmaßlichen Willen des Patienten umzusetzen. Um den Willen zu erforschen, kann er mündliche und schriftliche Äußerungen des Patienten heranziehen. An der Entscheidung wird ersichtlich, wie wichtig das persönliche Gespräch gerade über Dinge werden kann, über die man bei guter Gesundheit nicht gerne spricht.


Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 13.12.2018