Aktuelles » Aktuelle Rechtsprechung » Niemand darf ohne individuelle Abwägung dauerhaft geschützt untergebracht werden

Niemand darf ohne individuelle Abwägung dauerhaft geschützt untergebracht werden

Soll eine betreute Person geschützt untergebracht werden, muss eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben dieses Menschen bestehen. Das bedeutet, dass objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens vorliegen müssen. Der Grad der Gefahr für den betroffenen Menschen ist in Beziehung zu dem möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu setzen, entschied der Bundesgerichtshof.


Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.07.2022, Az. XII ZB 81/22

Das ist passiert:

Die 1933 geborene Betroffene leidet schon seit Jahrzehnten unter einer bipolaren Störung. Mittlerweile hat sich der Krankheitszustand durch eine hinzugekommene Demenz verschlimmert. Die Erkrankungen verursachen deutliche Störungen der Emotionen und des Verhaltens. Der Sachverständige führte im Gerichtsverfahren aus, dass sich das Krankheitsbild durch eine wahnhafte Realitätsverkennung auszeichnet. Daraus resultiert eine massive Neigung sowohl zu eigen- als auch fremdgefährdendem Verhalten, das sich in tätlich aggressiven Impulsdurchbrüchen, schweren formalen und inhaltlichen Denkstörungen sowie kognitiven Störungen und auch Gedächtnisstörungen äußert.


Für die Betroffene besteht eine Betreuung, deren Aufgabenkreis unter anderem die Aufenthaltsbestimmung, die Gesundheitssorge und Heimplatzangelegenheiten umfasst.


Mit Beschluss vom 15.12.2021 hat das Amtsgericht auf Antrag des Betreuers die Unterbringung der Betroffenen bis längstens zum 15.12.2023 genehmigt. Dagegen wehrte sich die Betroffene mit einer Beschwerde, die vom Landgericht jedoch zurückgewiesen wurde. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit einer Rechtsbeschwerde.

Darum geht es:

Eine freiheitsentziehende Maßnahme muss nach § 1906 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch vom Betreuungsgericht genehmigt werden. Dazu müssen bestimmte Voraussetzungen vorliegen. In diesem Fall muss § 1906 Abs. 1 Nr. 1 Bürgerliches Gesetzbuch erfüllt sein, der besagt, dass eine freiheitsentziehende Maßnahme zum Wohl des Betreuten gestattet ist, wenn aufgrund einer psychischen Krankheit und geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Es geht also darum, ob das Landgericht diese entscheidende Norm richtig interpretiert und angewendet hat.

Die Entscheidung:

Der Bundesgerichtshof sah die Voraussetzungen für eine dauerhafte Unterbringung nicht als gegeben an und hat die Entscheidung des Landgerichts aufgehoben sowie die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.


Ausschlaggebend war für den Bundesgerichtshof, dass das Landgericht den Gefahrenbegriff des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB verkannt hat. Gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist. Das bedeutet, dass aufgrund einer psychischen Krankheit und einer geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt.


Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist es hierfür notwendig, dass eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben des Betreuten besteht. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben erfordert kein zielgerichtetes Verhalten, aber objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens.


Die Prognose einer nicht anders abwendbaren Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden ist Sache des Tatrichters. Sie baut im Wesentlichen auf der Anhörung des Betroffenen und der weiteren Beteiligten sowie auf dem einzuholenden Sachverständigengutachten auf. Die Begründung darf sich auch bei wiederholt untergebrachten Betroffenen nicht auf formelhafte Wendungen beschränken, sondern muss die Tatbestandsvoraussetzungen im jeweiligen Einzelfall durch die Angabe von Tatsachen konkret nachvollziehbar machen.


Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs hat das Landgericht keine konkreten Anhaltspunkte für die Gefahr des Eintritts eines erheblichen Gesundheitsschadens festgestellt. Die Begründung beschränkt sich auf formelhafte Wendungen. Auch in dem in Bezug genommenen Sachverständigengutachten fehlt es an konkreten Anhaltspunkten für eine Gefahrenlage. Das Gericht hat es verabsäumt, die krankheitsbedingten Einschränkungen auf eine konkrete Gefahrenlage für die Betroffene zu übertragen. Ferner fehlt es auch an der erforderlichen Relation zum möglichen Schaden für die Betroffene.


Auf eine Fremdgefährdung kommt es im Tatbestand des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 Bürgerliches Gesetzbuch nicht an.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:

Diese Entscheidung bietet gute Argumentationshilfen für die Betreuerin oder den Betreuer. Bei einer freiheitsentziehenden Maßnahme ist stets der individuelle Fall zu betrachten. Routinemäßiges Fixieren, um Stürzen von nachts aufstehenden Patientinnen und Patienten zu verhindern, ist nicht angezeigt, wenn eine mildere Maßnahme möglich ist. In Betracht kommt etwa ein niedrigeres Bett, aus dem gefährliche Stürze nicht möglich sind.

Quelle: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.07.2022, Az. XII ZB 81/22