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Vernachlässigt ein Hausnotrufdienst grob seine Pflichten, trifft ihn die Beweislast, dass sein Handeln nicht für den Schadenseintritt ursächlich war

Vernachlässigt ein Betreiber eines Hausnotrufdienstes die ihm nach dem Vertrag obliegenden Schutz- und Organisationspflichten grob, tritt eine sogenannte „Beweislastumkehr“ zugunsten des geschädigten Vertragspartners ein. Das bedeutet, dass in diesem Fall nicht der Geschädigte beweisen muss, dass die Pflichtverletzung Ursache des Schadens war, sondern der Hausnotrufdienst den Beweis antreten muss, dass sein Verhalten nicht für den Schadenseintritt ursächlich war (Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 11.5.2017, Az. III ZR 92/16).

Das ist passiert:

Ein schwer kranker Mann betätigte seinen Hilfeknopf, um den Hausnotruf zu alarmieren. Der den Anruf entgegennehmende Mitarbeiter des Notrufdienstes vernahm minutenlang lediglich ein Stöhnen. Mehrere Versuche, den Mann telefonisch zu erreichen, scheiterten. Der Mitarbeiter veranlasste daraufhin, dass ein Beschäftigter eines Sicherheitsdienstes den Mann in seiner Wohnung aufsuchte.
Der Mitarbeiter fand den Mann am Boden liegend vor. Der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes rief jedoch keine ärztliche Hilfe herbei, sondern richtete lediglich gemeinsam mit einem Kollegen den Mann auf und setzte ihn auf ein Sofa. Dann ließen ihn die beiden Angestellten allein in der Wohnung zurück. Drei Tage später wurde der Hilfesuchende von Angehörigen des ihn versorgenden Pflegedienstes in der Wohnung liegend aufgefunden und mit einer Halbseitenlähmung sowie einer Aphasie (Sprachstörung) in eine Klinik eingeliefert, wo ein nicht mehr ganz frischer, wahrscheinlich ein bis drei Tage zurückliegender Schlaganfall diagnostiziert wurde.
Der Mann behauptete, die gravierende Folgen des Schlaganfalls wären vermieden worden, wenn der den Notruf entgegennehmende Mitarbeiter des Notrufdienstes einen Rettungswagen mit medizinisch qualifizierten Rettungskräften zu ihm hingeschickt hätte.
Das Landgericht (Einzelrichter) hat die auf Zahlung von Schadensersatz und eines angemessenen Schmerzensgeldes (mindestens 40.000 €) sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht des Hausnotrufdienstes gerichtete Klage für alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung war erfolglos. Aber die Töchter und Erbinnen des während des Berufungsverfahrens verstorbenen Mannes gaben nicht auf und verfolgten Ihre Angelegenheit bis vor den BGH.

Darum geht es:

Im Kern geht es um die wichtige Frage der Beweislast. Grundsätzlich trägt der Geschädigte die Darlegungs- und Beweislast für die Pflichtverletzung, die Schadensentstehung und auch für den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden. Diesen Beweis hätten die Töchter wohl kaum führen können.

Im Arzthaftungsrecht führt ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, regelmäßig zur Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden. Dies ist neu in § 630h Abs. 5 BGB geregelt. Der BGH führte aus, dass wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage dies entsprechend bei grober Verletzung sonstiger Berufs- oder Organisationspflichten auch gilt, sofern diese, ähnlich wie beim Arztberuf, dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen.

Die Entscheidung:

Der Senat des BGH hatte keine Bedenken, diese Beweisgrundsätze auf den Fall anzuwenden. Der von dem Betreiber angebotene Hausnotrufvertrag bezweckte in erster Linie den Schutz von Leben und Gesundheit der zumeist älteren und pflegebedürftigen Teilnehmer. Der den Notruf entgegennehmende Mitarbeiter hat die ihm obliegenden vertraglichen Schutz- und Organisationspflichten grob verletzt. Durch diese Nachlässigkeit wurden erhebliche Aufklärungserschwernisse in das Geschehen hineingetragen. Die Beweissituation ist für die Töchter gerade dadurch erheblich verschlechtert worden, dass der Betreiber des Hausnotrufs gegen die ihm nach dem Hausnotrufvertrag obliegenden Kardinalpflichten gravierend verstoßen hat und der Mann infolgedessen bis zur Einlieferung in die Klinik drei Tage später gänzlich unversorgt allein in seiner Wohnung lag.

Im konkreten Fall drängte sich das Vorliegen eines akuten medizinischen Notfalls auf. Aufgrund der Betätigung der Notruftaste und des Verhaltens des Klägers nach Annahme des Rufs in der Zentrale des Beklagten war deutlich, dass medizinische Hilfe benötigt wurde. Der Kläger war zu einer verständlichen Artikulation offensichtlich nicht mehr in der Lage, so dass der Mitarbeiter des Beklagten minutenlang nur noch ein Stöhnen wahrnahm. Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, scheiterten mehrfach. Aus dem Erhebungsbogen zu dem Notrufvertrag war den Bediensteten des Beklagten bekannt, dass der 78-jährige Kläger an schwerwiegenden, mit Folgerisiken verbundenen Vorerkrankungen litt. In einer dermaßen dramatischen Situation stellte die Entsendung eines medizinisch nicht geschulten, lediglich in Erster Hilfe ausgebildeten Mitarbeiters eines Sicherheitsdienstes zur Abklärung der Situation keine „angemessene Hilfeleistung“ i.S.d. Hausnotrufvertrags dar.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:

Zunächst einmal bedeutet die Entscheidung, dass es manchmal notwendig ist, sich nicht beirren zu lassen und sein Recht möglicherweise bis zu den höchsten Instanzen zu verfolgen. Genau das haben die Töchter des Mannes getan.

Aber der Fall zeigt auch auf, welche Erwartungen an die Hilfestellung eines Hausnotrufdienstes herangetragen werden können: die Hilfestellung muss „angemessen“ sein, d. h., liegen Anzeichen für einen Notfall vor, muss medizinisches Personal losgeschickt werden, um die Lage aufzuklären.

Quelle: Pressemitteilung des BGH vom 11.5.2017